Vom Windsurfen bis zur Altersweisheit. Interview mit Gerhard, 72

„Ich bin okay mit dem, was ich gerade tue.“

Gerhard und ich treffen uns in seinem kleinen Büro in Hamburg. Über viele Jahre hat er mich mit seiner Agilität, Lebensfreude und Reflektion beeindruckt. Ich weiß, das nichts tun, für ihn nicht in Frage kommt. Nun möchte ich wissen, wie für ihn die letzten Jahre so waren.

Andreas und Gerhard im Interview

Andreas: Lieber Gerhard, du bist 72 Jahre alt und hast damit das offizielle Renteneintrittsalter schon überschritten, bist aber immer noch in der IT als Selbstständiger tätig. Warum hörst du nicht auf zu arbeiten?

Gerhard: Bisher habe ich mich wohl nicht genug um eine Nachfolge bemüht. Nein, ernsthaft: ich kann mir nicht vorstellen, gar nichts zu machen, also auf der Couch zu liegen. Ob die jetzige Tätigkeit etwas für die Zukunft ist, wird sich zeigen. Geldverdienen ja, aber ich sage mal, es muss kein großer Betrag sein. Ein bisschen Zubrot ist ok.

Andreas: Arbeitest du dann im Moment noch Vollzeit?

Gerhard: Ich habe meine Zeiten reduziert. Die Wochenenden gehören jetzt sowieso mir und E-Mails lese ich, wenn ich dazu bereit bin.

Andreas: Kannst du dir vorstellen, irgendwann nicht mehr zu arbeiten und dann etwas anderes zu tun, welcher Art und Inhalt auch immer. Oder gruselt dich die Vorstellung?

Gerhard: Nein, überhaupt nicht. Es gibt in meinen Augen eine Sache, die man relativ früh üben sollte. Wir machen ja Entwicklungen durch im Leben, wir stellen z.B. körperlich fest, dass irgendwann bestimmte Dinge nicht mehr funktionieren. Ich habe mal von einem über 70-jährigen Triathleten gelesen, der sagte: ich kann so viel trainieren, wie ich will. Jedes Jahr verliere ich 10 Minuten. Und das zu akzeptieren, das ist der eine Punkt.

Früher konnte Windsurfen für mich nicht wild genug sein. Über die Wellen zu springen war mein Liebstes. Aber heute springe ich überhaupt nicht mehr, weil ich weiß, dass ich nicht mehr so schnell bin, nicht mehr so stark bin, nicht mehr so aufmerksam. Ein Fehler könnte mich dann die ganze Saison kosten oder den Spaß am Windsurfen überhaupt. Und deswegen heißt es heute für mich: einhängen und cruisen. Also schön geradeaus, vielleicht eine schöne Halse bis zu einer gewissen Windstärke, bei der das noch alles moderat ist.

Andreas: Du meinst, man muss rechtzeitig damit anfangen, sich über diese Dinge klar zu werden und ehrlich zu sich zu sein. Sehen, was noch geht und was nicht. Sich reduzieren und trotzdem auch genießen können, dass es so ist, wie es ist.

Gerhard: Das ist der Punkt. Es ist auch für mich okay, das Wellenspringen zu lassen. Ich richte mich neu aus. Wenn ich nicht mehr Windsurfen kann, baue ich vielleicht trotzdem noch Bretter für andere.

Windsurfen Interview Gerhard

Andreas: Aber viele haben ein Problem damit, ihre neu gewonnene Zeit überhaupt mit einer Tätigkeit zu füllen. Hattest du denn niemals für dich in deinem Leben das Thema: ich habe keine Ideen mehr, was soll ich machen?

Gerhard: Ich glaube, das zeichnet mich auf diese Art und Weise auch aus. Ich habe immer so unendlich viele verschiedene Sachen gemacht. Die IT habe ich immer als das Rückgrat bezeichnet, das mir erlaubt hat, meine „Turnübungen“ zu machen. Ich habe angefangen, Surfbretter zu bauen, war Leichtathlet, habe 14 Jahre lang mit meiner ersten Frau ein Veranstaltungszentrum aufgebaut und zu der Zeit so was wie Erwachsene-New-Age-Geschichten gemacht.

Ein Lebensmotto, das ich relativ früh in meinem Leben gefunden habe, ist: die Welt ist bunt. Ich glaube, wenn man es schafft, eine geistige Haltung zu entwickeln, die sagt: es gibt viele Möglichkeiten, dann kann ich dennoch eine Sache sehr konzentriert und dauerhaft machen, die mir meinen Lebensunterhalt garantiert. Und nebenher immer gucken, was geht noch. Beispielsweise Sport oder etwas Kreatives.

Wenn der Job dann wegfällt, ist die Übergangsphase nicht so krass. Weil nicht alles wegfällt, was einen ausmacht, sondern eben nur das Geld verdienen.

Andreas: Was würdest du denn jemandem raten, der etwas ratlos ist, der also nicht so richtig weiß, was er tun kann. Wie kann er sich nochmal neu entdecken?

Gerhard: Stellt man sich diese Frage, wenn man schon unmittelbar vor dem Ruhestand steht, dann ist es zu spät. Man muss lernen, rechtzeitig zu gucken: was interessiert mich denn noch? Es ist völlig egal, was das ist. Es kann zum Beispiel, wie ja bei mir auch, politisches Engagement sein. Man kann sich in seiner Umgebung, in seinem Stadtteil, in seinem Ort, in seinem Kreis, wo auch immer, engagieren. Oder ein Ehrenamt übernehmen. Ich habe den Eindruck, dass viele, die ein Ehrenamt übernommen haben, sehr viel für sich daraus ziehen.

Andreas: Um auf Ideen zu kommen, ist ja Kommunikation erstmal wichtig.

Gerhard: Man muss aus sich heraus. Man ist ja nicht isoliert, sondern man kann ja mit anderen sprechen, man kann andere Menschen treffen. Man kann sich mit denen austauschen und auf diese Weise seine eingefahrenen Denkpfade verlassen und Inspiration suchen. Am besten man geht dorthin, wo andere Menschen sind, die irgendwas tun, was einen interessieren könnte. Und dann auch einfach loslegen und ausprobieren.

Andreas: Nach dem Motto: Ich probiere mich mal aus und komme überhaupt erstmal im Ruhestand an.

Gerhard: Ja, und von zehn Dingen, die ich probiere, ist vielleicht eines der Bringer. Beispielsweise kann ich mir vornehmen , erst einmal drei Monate nichts zu tun. Ich stehe einfach auf, wenn es mir gefällt. Ansonsten kann ich ja auch anfangen, mich selbst zu erforschen. Was hat mich mal inspiriert? Was hat mich in meinem Leben vielleicht genervt? Vielleicht habe ich irgendwann mal geliebt, Musik zu hören. Und jetzt überkommt mich vielleicht der Gedanke, dass es doch ganz spannend zu wissen wäre, welche Tonleitern es überhaupt gibt. Und wie kommen die Leute überhaupt dazu, Musik zu machen und zu komponieren? Vielleicht war ja Musik mal eine große Leidenschaft. Das heißt auch gar nicht, dass man unbedingt ein Musikinstrument selbst gespielt hat. Aber es kann sein, dass man sich dafür interessiert hat. Und irgendwann dann nicht mehr. Also: warum eigentlich nicht alte Leidenschaften wieder aufnehmen?

Ich hoffe auch auf die eintretende Altersweisheit, aber sie kommt nicht von allein (lacht). Man kann sich auch mit sich selbst und seiner Persönlichkeit beschäftigen, sich fragen, warum bin ich so, wie ich bin? Bin ich so, wie ich im Moment bin, für mich okay? Kann ich mich verändern und entwickeln?

Wenn ich wüsste, dass ich diese Welt in drei Monaten verlassen würde, würde ich persönlich nicht in Panik verfallen. Ich habe so ein geiles Leben gehabt. Wenn ich vielleicht mal etwas gemacht habe, was nicht so meins war: ich hätte ja einfach aufhören können. Ein wunderbares Beispiel für die Art und die Gesellschaft, in der wir leben dürfen, immer noch.

Andreas: Du hast gesagt, du bist ein beruflicher Einzelkämpfer gewesen, aber du bist das ja privat nicht. Wie wichtig ist es, nicht alleine zu sein. Wie wichtig ist die Partnerin an deiner Seite?

Gerhard: Einzelkämpfer ist schon richtig, aber ich habe es genossen, immer mit anderen in wechselnden Teams zusammenzuarbeiten. Zudem hatte ich in meinem Leben immer wieder das wunderbare Erleben, mit herausragenden Frauen zusammen zu sein. Eine Partnerschaft sollte unbedingt etwas Gegenseitiges sein. Also man gibt und nimmt auf Augenhöhe sozusagen. Der eine das eine, der andere etwas anderes.

Andreas: Aber wenn jemand in den Ruhestand geht und so gar keinen Partner an der Seite hat, was würdest du sagen. Was rätst du? Alleine zu bleiben? Gemeinschaft zu suchen? Online zum Beispiel?

Gerhard: Wir alle sind soziale Wesen. Wir brauchen den Kontakt zu anderen Menschen. Den Kontakt und Austausch mit anderen Menschen am Computer halte ich für eine Illusion, für ein Opiat.

Ich glaube nicht, dass es einen wirklich zu einer liebevollen Beziehung zur eigenen Umwelt bringt. Und ich bin davon überzeugt, dass wir andere brauchen und dass wir auch Gemeinschaften brauchen, die nicht nur Konsens sind. Wir brauchen Auseinandersetzung. Momente in denen man sich reiben muss. Nur durch Reibung entsteht Wärme und Wärme ist Energie. Und die brauchen wir.

Und ja, meine letzte Beziehung ist die entspannteste von denen, die ich jemals hatte. Und trotzdem ist das ein anderer Mensch, der andere Sicherheiten hat, der eine andere Art zu leben hat.

So gibt es Momente, in denen ich überhaupt nichts mache. Ich sitze dann einfach nur so da, Meine Partnerin fragt dann: was denkst du gerade? Ich sage: ich denke gar nichts.

Interview Gerhard Blumenwiese

Andreas: Einfach im Leben im Moment glücklich sein. Zufrieden sein. Und eben nicht denken. Das ist ja auch der Sinn jeder Meditation. Aber nochmal zurück zum Sport, du hattest du ja schon ein bisschen was gesagt. Was würdest du jemandem sagen, der ein Sportmuffel ist und auf den Ruhestand zusteuert?

Gerhard: Ich würde auf gar keinen Fall mit zu hochgesteckten Zielen anfangen. Probier einfach. Ich würde immer nach etwas gucken, was mir Spaß macht und mich nicht überanstrengt. Etwas, das man genießen kann, ohne Leistungsgedanke. Und nicht im permanenten Vergleich mit anderen oder im Wettbewerb stehen.

Das ist auch ein Vorteil des Älterwerdens, dass die Ambitionen, die ein junger Mensch vielleicht braucht, einer gewissen Gelassenheit weichen. Einmal einen Schritt zurückgehen und schauen: Wenn ambitioniert, dann nur noch in meine Richtung. Ich möchte in Bewegung sein, ich möchte ein bisschen spielen. Aber nicht andauernd im Vergleich mit anderen. Und das ist möglicherweise eine Entwicklung, die auch vielleicht schon so etwas wie Altersweisheit andeutet.

Andreas: Gibt es irgendeinen besonderen Tipp zum Ruhestand?

Gerhard: Es gibt natürlich verschiedene Typen von Menschen. Ich glaube, für einige wäre es gut, wenn sie sich für eine gewisse Zeit eine neue Routine aneignen. Etwas mehr Spontanität, etwas mehr Chaos ins Leben lassen. Und die eigene Ordnung finden, die ja auch irgendwie in mir definiert ist. Und anders ist als das, was bisher vereinbart war, was ich leben musste. Es ist wichtig zu verstehen, dass es keine natürliche Ordnung gibt.

Wenn man sagt: ich stehe jetzt nicht mehr morgens um 6 Uhr auf, aber regelmäßig um 8 Uhr, ordne meinen Tag und strukturiere ihn. Wenn man das dann nutzt, um aus diesem Halt und Sicherheit Kreativität zu schöpfen, ist das völlig ok. Und dann gibt es andere, die sagen, ich möchte einfach mal so vor mich hin sein und nichts tun.

Wenn auch das Halt und Sicherheit gibt, kann das auch ein Teil der Struktur sein. Vor allen Dingen: sich das zu erlauben! Das ist die große Kunst, das kann man nicht früh genug lernen. Zu sagen: ich bin okay mit dem, was ich gerade tue. Weil es ja auch keinen anderer mehr gibt, der einem etwas erlaubt oder nicht.

Andreas: Es gibt keinen Chef oder Chefin mehr, die sagen: du bist okay oder nicht.

Gerhard: Sondern, um auf den Punkt zu kommen: weil ich das will. Niemand anderes.

Andreas: Dann wünsche ich dir weiterhin viel Spaß beim Windsurfen und Ruhestand genießen! Ich danke dir für das Gespräch.

Lernen, austauschen, Pläne schmieden!

Im Workshop
Achtsam in den Ruhestand
im Austausch mit anderen Boomern, machen wir uns gemeinsam auf eine Reise, die zu deinem ganz persönlichen Plan für den kommenden Lebensabschnitt führt. 

Andreas Peters Blog

Andreas Peters, Jahrgang 1965, waschechter Hamburger, Vater, vierfacher Unternehmensgründer mit dem Schwerpunkt IT aber auch New Work. Zweifacher Buchautor, Fotograf und auch Maler mit Ausstellungen. Ehrenamtliche Tätigkeit für die Handelskammer Hamburg in Schulen. Mehrfacher Weltreisender.

(…) wobei die Welt ja stets größer wird, je länger man sie bereist. Meine Jobs gegen Neugierde und Erfahrung einzutauschen, habe ich aber niemals bereut.